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Sieglinde Helmsdorf

Sieglinde Helmsdorf

Sieglinde Helmsdorf war Überlebende des Nationialsozialismus und zugleich 2. Generation, Antifaschistin, Dichterin und noch so vieles mehr. Wir haben sie über die Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis und auf Gedenkfeiern der Initiative zur Befreiung der Konzentrationslager kennen und schätzen gelernt. Sieglinde Helmsdorf war auch auf Bau- und Begegnungscamps und hat unsere weiteren Gedenkfeiern mit Beiträgen bereichert.
Wir vermissen sie und dennoch ist sie immer bei uns.

Es ist das feministische und antifaschistische Bau- und Begegnungscamp 2015 der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark. Seit dem ersten Tag ist Sieglinde Helmsdorf in unseren Köpfen, Herzen und in unseren Gesprächen dabei. Es ist sicher, dass sie uns dieses Jahr nicht wie die vergangenen Jahre besuchen, uns aus ihrem Leben erzählen, mit uns diskutieren und an den Aktivitäten der Menschen auf dem Camp anteilnehmen wird – sie liegt im Sterben. Einige der Teilnehmenden kennen sie, einige fahren vom Baucamp nach Chemnitz, andere von Berlin und Leipzig aus, um Sieglinde ein letztes Mal zu sehen. Sie stirbt am 26.8.2015 im Krankenhaus Chemnitz im Alter von 77 Jahren.

„Wir brauchen die Erinnerung, Solidarität und menschliche Wärme für eine friedliche Zukunft “

Sieglinde Helmsdorf


Wir erzählen von ihr und während sich die 27 Teilnehmenden untereinander kennenlernen, lernen viele von ihnen auch Sieglinde zum ersten Mal kennen. Die Initiative kennt Sieglinde seit 2008. 2009 kam sie zum ersten Mal auf das Baucamp – eingeladen, um als Kind von ermordeten KZ-Häftlingen und Zeitzeugin der NS-„Fürsorge“ zu berichten, also gleichermaßen als Vertreterin der „ersten und der zweiten Generation“. Sie erzählte und es war klar, dass sie das noch nicht oft getan hatte. „Es ist mir wichtig, als Tochter von Naziopfern zu erzählen, was war und darauf aufmerksam zu machen, welche Folgen die so lange zurückliegenden Ereignisse noch über Generationen hinweg haben“, schrieb sie später in ihrem autobiografischen Buch „Ich hatte vier Mütter und drei Väter…und dazwischen war ‚Haus Sonnenschein‘“ von 2012.

Sieglinde erzählte von ihren Recherchen zur Ermordung ihrer Eltern, von der Verfolgung der als >asozial< Stigmatisierten und ihrem eigenen schmerzvollen Gang durch Pflegefamilien und Heime, sie sprach das erste Mal über die von ihr erlittenen Vergewaltigungen und sie weinte. Sie öffnete sich und zeigte nicht nur ihre nie zu heilenden Wunden, sondern immer auch ihre Tatkraft, ihren manchmal trockenen Humor und ihren unbedingten Lebenswillen. Sie wollte nie nur Opfer sein, sondern Kämpferin für eine bessere Welt. Dazu gehörte für sie unbedingt die Empathie mit anderen: Sieglinde nahm Anteil, wenn sie bei ihren Gesprächen mit Jugendlichen erfuhr, wie diese an eigenen Unrechtserfahrungen litten. Sie nahm Anteil an den Erzählungen der KZ-Überlebenden und engagierte sich in der VVN Chemnitz, der Lagergemeinschaft Sachsenburg, der Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. und der Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark. Sie pflegte eine nahe Freundschaft zu Łucja Barwikowska, einer Überlebenden des Jugend-KZ Uckermark, die sie durch die Initiative kennengelernt hatte.

Sie schrieb Gedichte, in denen sie sich in andere hineinfühlte, die z. B. von Rassismus oder Transfeindlichkeit betroffen sind. Sie schrieb, um zu gedenken und zu mahnen und veröffentlichte schließlich ihre Autobiografie.

Jahrzehntelang hatte sie über ihre eigene Geschichte geschwiegen, hatte Angst vor dem Vorwurf, sich in den Mittelpunkt spielen zu wollen. Doch in den letzten Jahren unternahm sie mit ihrem Buch viele Lesereisen. Denn sie hatte etwas mitzuteilen, das besonders
den Angehörigen jüngerer Generationen hilft, die Geschichte zu verstehen. Wir und viele andere haben dadurch von ihr gelernt. Zu einigen entwickelte sich eine persönliche Freundschaft.

Schon zum ersten Baucamp kam Sieglinde nicht als Gast und Rednerin, sondern als Teilnehmerin. Morgens weckte sie uns alle– sehr früh – mit Klopfen an jede Tür und scheuchte uns auf. Sie machte mit uns eine Bootsfahrt und unterdrückte ihre Panik davor, den Zug nach Hause zu verpassen, als wir im Schlick feststeckten. Sie packte mit an soweit ihr Körper es zuließ.

Sieglinde redete auf Befreiungsfeiern auf dem Gelände des ehemaligen KZ Uckermark, empörte sich über die „neuen Nazis“ und sang mit uns die „Moorsoldaten“. Sie formulierte uns gegenüber nicht nur Dankbarkeit und Wertschätzung dafür, dass wir ihr zuhörten sondern empfand das Reden und die Nähe als „Befreiungsschlag“.

Nicht Geld oder Besitz sind für mich Glück, aber Hilfe und Solidarität, ohne Gegenleistung einzufordern oder zu bekommen. Wärme, menschliche Wärme geben, dem anderen zuhören, ihn verstehen, für ihn da sein und ihm Hilfe anbieten, das sind Dinge, die mich glücklich machen“, schrieb sie. Diese Unterstützung, Ermutigung und Solidarität haben auch wir, als Initiative und als Einzelne, mit vollen Händen von Sieglinde geschenkt bekommen. Mit ihrer Öffnung wollte sie „anderen Mut machen, mit solchen oder ähnlichen Schicksalen an die Öffentlichkeit zu gehen, offen darüber zu reden und sich damit zu entlasten.“ Sie, die seit ihrer frühen Kindheit kein Glück und keine Liebe erfahren hatte, die Zeit ihres Lebens an den seelischen und körperlichen Folgen litt, kämpfte für eine Welt, in der anderen Menschen ähnliche Grausamkeiten erspart bleiben würden. So lenkte sie den Blick immer wieder auch auf das große Ganze „Es ist mir ein innerstes Anliegen, etwas zu tun, damit so etwas nie wieder geschieht…. Mir geht es um Gerechtigkeit, darum, dass jeder Mensch ein Recht auf ein selbstbestimmtes und würdevolles Leben hat. Niemand darf einen anderen wegen seiner Herkunft, seiner Hautfarbe, seines Aussehens, einer Behinderung, einer bestimmten sexuellen Ausrichtung oder was auch immer diskriminieren und ausgrenzen.“

Sieglinde wollte noch nicht gehen. Nur wenige Tage vor ihrem Tod sprach sie von einer Zukunft, von ihren Lesungen und ihrer politischen Arbeit. „Wenn wir es nicht machen, macht es keiner“.
Auf der Gedenkfeier des ehemaligen KZ Uckermark sagte Sieglinde im Jahr 2014:
Wir brauchen die Erinnerung, Solidarität, Verständnis und vor allem menschliche Wärme, für eine friedliche Zukunft.“ In diesem Sinne werden wir unsere Arbeit weitermachen!

Wir, die Initiative für einen Gedenkort ehemaliges KZ Uckermark, das Baucamp 2015 und Freund_innen, sind Sieglinde Helmsdorf für ihr Wirken, ihr Kämpfen, ihr Mahnen, ihr Lachen, ihren Witz, ihre Aufmerksamkeit und Empathie unendlich dankbar. Sie ist bei uns und wird es bleiben– wir werden dich nicht vergessen! Ihre letzten Worte aus dem Beitrag im Buch der Kinder von KZ-Häftlingen können zugleich ihr uns verpflichtendes Vermächtnis sein:

„Aber mein innigster Wunsch ist und bleibt, dass alle Orte, an denen der Nationalsozialismus seine Spuren hinterlassen hat, zu Gedenkorten werden, dass man sie respektiert und ehrt, und dass es keine Gleichsetzung mit anderen Diktaturen gibt, die von Unterdrückung und Tötung gekennzeichnet waren. Denn im Nationalsozialismus war es nicht nur Tötung sondern millionenfacher Mord. Das darf niemals wieder geschehen. Deshalb dürfen wir auch niemals vergessen, sondern müssen diese Botschaft immer wieder weiter- und weitertragen.“


mehr von Sieglinde Helmsdorf in:

Kinder von KZ-Häftlingen – eine vergessene Generation. Lagergemeinschaft Ravensbrück/Freundeskreis e.V. (Hg.): Unrast 2011

Ich hatte vier Mütter und drei Väter … dazwischen war „Haus Sonnenschein“
Helmsdorf, Sieglinde/Zellmer, Margitta: 2012
(Bezug über: Klinke e.V. Rosenplatz 4, 09126 Chemnitz)

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